Charakterisierung: Die Landschaftsgeschichte der Nordschweiz während der letzten ca. zwei Millionen Jahre ist von Flusseinschneidung, Abtragung der lokalen Topographie und Gletschererosion geprägt. Die Untersuchungen erlauben die Charakterisierung und Bewertung der relevanten Prozesse und Faktoren, welche die Robustheit der Standortgebiete bezogen auf die langfristigen Auswirkungen der Erosion beeinflussen. Es sind dies die Hebung, die lokale Topographie über dem Lagerstandort, die Ausdehnung der Vergletscherungen, die Tiefe der Lagerebene sowie die Erodierbarkeit der Gesteinssäule über dem Opalinuston. Künftige glaziale und nicht-glaziale Erosionsprozesse dürften mit denen des jüngsten Zeitabschnittes der Erdgeschichte, des Quartärs, vergleichbar sein, allerdings mit geringeren Raten. Für eine ausführliche Beschreibung der Landschaftsentwicklung und Erosion siehe Kap. 2 in Nagra (2024f).
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Hebung und Flusseinschneidung: Die Hebung ist der wichtigste Parameter, der die Flusseinschneidung steuert. Es werden nur geringe langfristig gemittelte Hebungsraten erwartet, mit kurzzeitigen Pulsen erhöhter Hebung, z. B. als postglaziale isostatische Ausgleichsbewegung.
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Lokale Topographie (Topographie über dem tiefsten Niveau der Hauptflüsse) über dem Lagerstandort: Künftige Flussläufe orientieren sich in erster Linie an der lokalen Topographie. Insbesondere im Zusammenhang mit Vergletscherungen können sich auch Täler quer zu bestehenden Hügelketten bilden («Durchbruchsrinnen»). Dies ist insbesondere für Jura Ost relevant, weil dort ein beträchtlicher Teil der Gesteinsüberdeckung des Lagers über dem Niveau der Aare liegt. In Jura Ost sind alternative Entwässerungsnetze trotz der ausgeprägten Topographie zwar weniger wahrscheinlich als in den anderen Standortgebieten, der Effekt auf die Restüberdeckung über dem Lager ist dafür aber deutlich grösser und relevanter.
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Ausdehnung der Vergletscherungen: Die drei Standortgebiete waren in der Vergangenheit in unterschiedlichem Masse vergletschert (insb. Eismächtigkeit und Dauer der Eisbedeckung). Nur die grössten Vereisungen erreichten das Standortgebiet JO, und die Gletscher waren dort am geringmächtigsten. In der letzten Eiszeit war die Eisbedeckung in ZNO mächtiger und grossflächiger als in NL. Ein solches Muster ist auch für künftige Vergletscherungen zu erwarten.
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Erodierbarkeit der Gesteinssäule über dem Opalinuston: Grössere Mächtigkeiten von erosionsresistenteren Gesteinen (insb. Malmkalke, Hauptrogenstein und «Herrenwis-Einheit») über dem Lager erhöhen die Robustheit eines Standorts gegenüber Erosion, v.a. in Bezug auf künftigen tiefgründigen Gletscherschurf. Schwerer zu erodierende Gesteinsschichten befinden sich auch in grösseren Tiefen von NL und ZNO, weshalb künftiger Gletscherschurf in diesen Gesteinen vermutlich weniger tief ausfallen wird als in heute beobachteten, leichter zu erodierenden Sedimentgesteinen.
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Tiefe des Lagers: Eine grössere Lagertiefe erhöht die Robustheit eines Standorts gegenüber künftiger Erosion (Flusseinschneidung, Abtragung der lokalen Topographie und glaziale Tiefenerosion).
Kennzahlen und Bewertung: Die systematische Beurteilung der Auswirkungen der zukünftigen Erosion auf die Restüberdeckung mithilfe hybrid-probabilistischer Modellrechnungen (Kap. 3 in Nagra 2024f) erlaubt folgende Schlussfolgerungen.
Für die HAA-Lager sind die berechneten Restüberdeckungen der Lagerebenen nach 1 Mio. Jahren in Fig. 4‑4 für ausgewählte Punkte und unter Annahme verschiedener Entwässerungsszenarien dargestellt. Unter Annahme der langfristig erwarteten Prozesse im heutigen Entwässerungsszenario beträgt die Bandbreite der berechneten Restüberdeckung der Lagerebene nach 1 Mio. Jahren (P5-Werte) rund 140 – 285 m (JO), 395 – 575 m (NL) und 370 – 610 m (ZNO) (Kap. 4 in Nagra 2024f). Die Verhältnisse zum langfristigen Erhalt der als sicher für das Selbstabdichtungsvermögen des Opalinustons eingestuften Restüberdeckung von 200 m sind also in NL und ZNO überall vorhanden. JO weist diesbezüglich lokale Einschränkungen auf.
Der Indikator «Restüberdeckung im Hinblick auf Dekompaktionseffekte» wird im Kriterium 2.2 für die langfristig erwarteten Prozesse im heutigen Entwässerungsszenario für das HAA-Lager in NL und ZNO entsprechend mit sehr günstig bewertet. JO wird wohlwollend mit günstig bewertet. Diese Bewertung gilt für den grössten Teil der Platzreserven (d. h. überall dort, wo die Restüberdeckung der Lagerebene zwischen 200 – 250 m liegt), sie fällt also zugunsten von JO aus. Die Bandbreiten der berechneten Restüberdeckungen in NL und ZNO werden als gleichwertig betrachtet und die Rangfolge der EG wie folgt eingestuft: NL und ZNO stehen auf Rang 1, JO auf Rang 3.
In Kriterium 3.3 werden mit demselben Indikator pessimistische Entwässerungsszenarien bewertet. Für JO werden dazu alternative Entwässerungsszenarien betrachtet, die sich an der lokalen Topographie orientieren und Durchbruchsrinnen zulassen, während für NL und ZNO ein hypothetischer Flussverlauf direkt über der Lagerebene angenommen wird. In diesen ergänzenden Modellrechnungen sind die standortspezifischen Unterschiede bei der Restüberdeckung der Lagerebene nach 1 Mio. Jahren akzentuierter. Die Bandbreite der berechneten Restüberdeckung des Lagerfelds nach 1 Mio. Jahren (P5-Werte) beträgt rund 125 – 275 m (JO), 340 – 435 m (NL) und 220 – 365 m (ZNO) (Kap. 4 in Nagra 2024f).
Die Bewertung ist auch in Kriterium 3.3 sehr günstig für das HAA-Lager in NL und ZNO, resp. günstig für JO, da die Restüberdeckung der Lagereben in JO auch in dieser Situation im überwiegenden Teil der Platzreserven zwischen 200 – 250 m liegt. Auch diese Bewertung fällt zugunsten von JO aus. Die Bandbreiten der berechneten Restüberdeckungen unterscheiden sich jedoch stärker, weshalb die Rangfolge der EG wie folgt eingestuft wird: NL steht auf Rang 1, ZNO auf Rang 2, JO auf Rang 3.
Aufgrund des kürzeren Betrachtungszeitraums von 100'000 Jahren für das SMA-Lager sind die Auswirkungen der Erosion auf die Restüberdeckung der Lagerebene in allen Standortgebieten und für alle Entwässerungsszenarien klein (Kap. 4 in Nagra 2024f). Damit bleibt die Barrierewirkung bis zum Ende des Betrachtungszeitraums vollständig erhalten. Entsprechend wird der Indikator «Restüberdeckung im Hinblick auf Dekompaktionseffekte» für alle Standortgebiete mit sehr günstig bewertet (für Kriterium 2.2 und 3.3) und die Standortgebiete für SMA werden als gleichrangig eingestuft.
Fazit zum Indikator in Kriterium 2.2: Alle Standortgebiete bieten langfristig Schutz vor Erosion. Die erwarteten Verhältnisse sind günstig für das HAA-Lagerprojekt in JO sowie sehr günstig für die HAA-Lagerprojekte in NL und ZNO sowie für die SMA-Lagerprojekte in allen Standortgebieten.
Fazit zum Indikator in Kriterium 3.3: Die Restüberdeckung ist auch unter Berücksichtigung alternativer oder hypothetischer Entwässerungsszenarien in NL und ZNO sehr günstig und in JO günstig. In NL sind die Sicherheitsmargen am grössten.
Fig. 4‑4:Karten mit berechneten Restüberdeckungen nach 1 Mio. Jahren für verschiedene Erosionsszenarien in den Standortgebieten JO, NL und ZNO
Figur basierend auf Fig. 4-3 in Nagra (2024f). Figuren links: Karten mit heutigem Terrain, übertieften Felsrinnen und Platzreserven für HAA; Figuren Mitte und rechts: berechnete Restüberdeckungen der Lagerebene für ausgewählte Punkte innerhalb der Platzreserven HAA für das erwartetes Entwässerungsszenario (Kr 2.2, Mitte) und für alternative und hypothetische Entwässerungsszenarien (Kr 3.3, rechts). Die aufgeführten Werte entsprechen den P5-Werten der Restüberdeckung (in m) für die ausgewählten Punkte innerhalb der Platzreserven HAA («Punktansatz» gemäss Kap. 4.1.3 in Nagra 2024f).
Betrachtungen mit dem «Flächenansatz» gemäss Kap. 4.1.1 und 4.1.2 in Nagra (2024f) ergeben innerhalb der Lagerfelder zudem folgende P5-Werte für die Restüberdeckung: 140 m (JO), 395 m (NL), 370 m (ZNO) für Kr 2.2; 125 m (JO), 350 m (NL), 220 m (ZNO) für Kr 3.3.